Über das Ausgesöhnte – die Scham und ich

Textauszüge, die in mein zweites Buch einfließen werden

Die stillen Tage und die Rauhnächte sind gute Tage und Nächte um an meinem zweiten Buch weiter zu schreiben. Ist es doch auch eine Zeit der Auflösung und des Neubeginns.

Ich sichte alte Texte – vor langer Zeit geschrieben – und mein Herz fließt über vor Mitgefühl mit dem Kind / dem Mädchen / der jungen Frau, die sich durch so viele Einschränkungen / Tabus / Begrenzungen / Lieblosigkeit / durch das Dunkel zum Hellen durchgekämpft hat. Es war ein harter Kampf – ein Kampf mit dem Drachen – an dem sie auch scheitern oder zerbrechen hätte können. Ich bewundere sie und bin dankbar für ihren Mut. Durch sie und mit ihr bin ich die geworden, die ich heute bin.

Heute werde ich von ihren Verletzungen erzählen. Doch schlussendlich wird es im Buch eine Heldinnengeschichte werden – unter vielem anderen auch ihr Sieg im Kampf gegen den Drachen Scham.

Aber, Achtung! Wenn selbst Götter und Göttinnen unperfekt sind, dann erst recht Menschen – und damit auch ich.

Vergebung ist der Schlüssel mit der die Gefängnistür des Opferseins geöffnet wird.

Trauerarbeit ist ein Teil dieses Vergebungsprozesses und es war mir nicht bewusst, dass die tiefe Trauer der letzten vier Jahren auch die Wunden dieser alten Verletzungen mit eingeschlossen hat. Mit meiner Mutter habe ich in ihren letzten zwei Jahren hier auf Erden über meine Verletzungen gesprochen. Sie hat sie anerkannt und ausgesprochen, wie viel sie bereut und mich um Vergebung gebeten. Ich habe ihr vergeben. Das ist gut so – meine Bitterkeit und meine Wut haben sich aufgelöst. Das ist gut so – sie konnte versöhnt sterben. *)

Jetzt erkenne ich den Sinn, dass ich in den letzten zwei Jahren als erstes Buch das Buch über die Jahre meines Älterwerdens mit aller Versöhnung die notwendig war, um ein zufriedenes Leben leben zu können, geschrieben habe. Von ausgesöhnten Verletzungen muss ich mich nicht distanzieren und ich kann Hand in Hand mit ihnen gehen, denn sie gehören zu mir.

Eine Versöhnung mit der eigenen Geschichte.

 

die scham – damals in den 70er jahren

 

sie ist 12 jahre alt und früh entwickelt

was immer das heißen mag

es klingt schon fast nach schuldigkeit

und nicht normal

 

warum bist du so früh dran

sagt man ihr

warum hast du schon einen busen

und härchen auf deiner scham

schäm dich

 

du bist zu früh dran

was immer das heißen mag

 

sie schämt sich ohnehin

nicht nur für ihr zu früh dran sein

auch für vieles andere noch

ununterbrochen ist sie da

die scham in ihr

und breitet sich aus

 

ihr kopf ist noch oben

es wird nicht mehr lange dauern

und ihr kopf wird sich gesenkt haben

und lange jahre nicht mehr nach oben kommen

vor lauter scham

 

aber jetzt

nicht nur zu früh mit den knospenden brüsten

und den härchen

auch ihr interesse für die buben

zu früh und überhaupt

was schaust du denn schon wieder nach den buben

sagt man ihr

schäm dich

 

schäm dich

für das entdecken wollen

von etwas

was sie noch gar nicht benennen kann

gesagt wird ihr

dass das nicht in ordnung ist

was sie fühlt

dass es zu früh ist

und überhaupt

also schäm dich

 

und dann der tag am strand in italien

der camping-urlaub 1962

sie will nicht mit

aber sie muss

 

was hast du es doch gut, du undankbares mädchen

andere mädchen können nicht auf urlaub nach italien

doch sie möchte gerne zu den anderen mädchen gehören

sie will nicht im zelt sein

viel zu nahe mit dem neuen mann im leben ihrer mutter

ihrem stiefvater

den sie vater nennen soll

und dieser mutter

die sie nicht kennt und der sie nicht nahe ist

die sie kontrolliert

unablässig

 

wie sehr hat sie sehnsucht nach ihrer großmutter

die ihr aufgetragen hat, brav zu sein

und zu folgen

und ihr keine schande zu machen

damit sie sich nicht schämen muss

 

auch großmutter könnte sich also schämen

für sie

zu ihrer eigenen scham

noch die scham der großmutter

dazu

 

und dann doch

sonne, meer, strand

viele fröhliche jugendliche

zu denen sie nicht gehört

testosteron in der luft

von all den jungen männern

und ihre sehnsucht im bauch

und die scham im kopf

und ihr versuch

irgendwie dem kontrollierenden blick der mutter

zu entkommen

 

wenn SIE am strand sind

ist sie im zelt

hundert ausreden erfindend

 

und wenn SIE im zelt sind

möchte sie gerne an den strand

darf aber nicht

 

allein am strand

was könnte da passieren

 

aber

es passiert doch

aber anders

 

der gute-nacht-kuss

sie im zelt auf der luftmatratze

zwischen den campingbetten

von dem stiefvater und der mutter

so eng

nicht einmal eine handbreit zwischenraum

so eng wie das ganze leben

 

und dann

dieser gute-nacht-kuss

er beugt sich über sie

sie am boden sitzend

sein männergeruch über ihr

vorher nicht sicher

ob sie diesen geruch mag

oder abstossend findet

nachher

wird sie ihn für immer abstossend finden

und der kuss

mit diesen großen, feuchten lippen

geöffnet

und der zunge

die sich

in ihren mund

drängt

überraschend

übergreifend

ekelig

 

ihre mutter neben ihr

dicht

und sie sagt nichts

kann nichts sagen

ihr mund verschließt sich

und verstummt

und sie schämt sich

 

später

viel später

wird man sie immer wieder fragen

warum hebst du deinen kopf nicht

warum versteckst du dein gesicht

hinter deinen haaren

warum redest du nicht

 

doch SIE haben ihr die stimme genommen

mit all ihren lügen

und SIE haben die scham

in sie

hineingepflanzt

 

SIE haben ihr

die stimme genommen

 

später

viel später

wird sie kommunikationsseminare besuchen

weil eine leere in ihrem kopf entsteht

wenn sie reden soll

weil sie keine stimme hat

 

weil die alten stimmen in ihr auftauchen

die ihr sagen

du hast nichts zu sagen

und

das letzte wort habe ich

 

doch

das letzte wort

ist noch nicht gesprochen

 

********************

Die Grenzen des Blicks

Im Erdgeschoss der Hauptschule befand sich die Kochschule. Die großen Fenster gingen in den Garten, in dem sich niemand aufhalten durfte. Und schon gar nicht Buben, die im Nebengebäude untergebracht waren. Doch manchmal standen welche vor dem Fenster und machten Faxen.

Wenn ich zum Fenster hinaussah in den Garten, brüllte die Kochlehrerin – schaust du schon wieder nach den Buben?

In meinem Elternhaus gab es den sicheren Bereich des Gartens hinter dem Haus, und den unsicheren Bereich vor dem Haus.

Wenn ich mich vor dem Haus aufhielt und zur Straße hinaussah, zischte meine Mutter – schaust du schon wieder nach den Buben?

Ich hätte mich das nie getraut. Nach den Buben schauen. Dort nicht und da nicht. Kam ich mir doch viel zu dick vor. Ich kam mir immer zu dick und hässlich vor. Die ganze Hauptschulzeit. Kurze Zeit später, als ich dann wirklich begann mich für Buben zu interessieren – nein, auch nicht für die Buben, nur für einen – begann ich abzunehmen. Die erste Hungerzeit in meinem Leben, der noch viele folgen sollten. Mein ganzes Leben lang. 20 kg mehr – 20 kg weniger. Eine Pendelbewegung.

Ich traute mich auch nicht aufzuschauen. Angst. Nur nicht auffallen. Wenn ich doch einmal den Blick hob, begegnete ich den wachsamen Augen der Kochlehrerin. Und wenn diese rote Flecken am Hals hatte, begann die Brüllerei von neuem. Ich konnte nichts richtig machen. Und weil ich Angst hatte, machte ich auch nichts richtig. Ich musste die brennheißen Erdäpfel in die ganze Hand nehmen – nein, nicht mit den Fingerspitzen halten und auch nicht auf eine Gabel – in die Handfläche. Und nicht fallen lassen. Wenn jemand flüsterte, wenn jemand etwas falsch machte, blies die Kochlehrerin in ihre schwarze Pfeife, die sie um den Hals hängen hatte, und alle standen stramm. Besonders ich. Ich war froh und erleichtert, dass mir alles schmeckte. Wenigstens das. Andere Mädchen haben sich erbrochen, mussten ihr Erbrochenes wegwischen, sich hinsetzen und weiter essen. Am Ende der Stunde, war ich es, die noch mit einem Eimer und dem Ausreibfetzen am Boden kniete und den Boden aufwischte. Alle anderen standen bereits, ihrer Kochschürzen entledigt, bei der Tür und warteten auf mich. Ungeduldig. Welche Scham.

Beim Umkleiden im Keller vor dem Schwimmbeckenbereich traute ich mich nicht meine Mitschülerinnen anzuschauen. Ich tat es doch. Heimlich. Hinter dem Vorhang meiner Haare heraus. Ich kannte keine nackten Körper. Ich sah, welch schöne Unterwäsche manche anhatten. Meine BH’s nähte die Großmutter selbst. Und meine Unterhosen waren Pumphosen. Das waren weite Hosen aus weißer oder rosa Baumwolle, die fast bis zum Knie reichten. Auch von meiner Großmutter genäht. Und im Winter waren sie aus dicker, fester Baumwolle, die mich noch unförmiger erscheinen ließen. Ich schämte mich in Grund und Boden.

Als ich mich mit 14 in meinen zukünftigen ersten Mann verliebte, ging mein Blick eindeutig über die gesetzten Grenzen hinaus. Heute würde ich sagen – ich sah ihn und wollte ihn. Damals – ja damals, war das nicht so eindeutig. Das Wollen – das Träumen – hatten sie mir ausgetrieben. Träumen tat ich nur mehr in meinen Büchern, die ich las. Und mit 14 hatte ich alle Karl May-Bände die es in der kleinen Bibliothek gab, ausgelesen. 60 waren es. Und ich bewunderte Old Shatterhand. Nein, nicht Winnetou, wie alle anderen Mädchen – Old Shatterhand. Und dann – dann traf ich ihn.

Ich stand mit meiner Freundin vor dem Kino und wartete auf den Beginn des Films „Winnetou I“. Wir gingen in die Nachmittagsvorstellung. Und ich wusste, hie und da kamen meine Eltern vorbei, nachzuschauen, ob ich mich auch wirklich nur mit meiner Freundin traf und ich mich auch nicht „aufführte“. Wie hätte ich mich das getraut. Unsicherheit und Angst.

Und dann sah ich ihn – Old Shatterhand. Franz hieß er, und er stand inmitten seiner Bubenclique – der Anführer. Er war 1,91 groß, blond, markantes Kinn, und von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet. In mir war ein Sturm von Gefühlen. Bewunderung, Liebe, Lust – von der ich damals nicht wusste, dass dies Lust war, Verlangen, Angst und Scham. Vor allem Scham. Dies war ein Gefühl, das mich noch lange in meinem Leben begleiten sollte.

Jetzt stand er dort – mein Held Old Shatterhand. Mein Held, der mich erlösen sollte. Und wenn ich in der Folge sämtliche Winnetou-Filme zwei- oder dreimal sah, dann nicht nur wegen der Filmfigur, sondern wegen Franz. Und irgendwann, als ich meine Eltern belog, und nicht mit meiner Freundin ins Kino ging, sondern alleine, hob ich meinen Blick und schaute ihn an. Ich weiß bis heute nicht, woher ich diesen Mut nahm. Er stand unterhalb der Stufen zum Kinoeingang. Seine Freunde etwas entfernt. Ich stellte mich auf die zweite Stufe, um mit ihm auf einer Augenhöhe zu sein, und redete ihn an. Und er schaute mich an. Dies war der Beginn einer bittersüßen Liebesgeschichte.

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Als die Liebesgeschichte, die in einer frühen Ehe mündete, zu Ende ging, begann der zweite Durchgang durch die Scham. Aber nein – die Liebesgeschichte ging nicht zu Ende – ich liebe ihn heute noch. Jedoch, die Möglichkeit eines guten Zusammenlebens ging zu Ende. Wir konnten nicht reden miteinander. Wir hatten beide keine eigene Stimme.

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am abgrund stehend

die scham – in späteren jahren

 

für das was ich war

für das was ich nicht war

für das wie ich war

für das wie ich nicht war

für das was ich nicht wusste

 

scham und unsicherheit

mich falsch zu benehmen

nicht das richtige zu sagen

nicht das richtige zu tun

 

und aus dieser unendlichen scham heraus

bestätigung suchend

bei einem mann

von einem mann

gib mir endlich die anerkennung

die bestätigung

dass ich in ordnung bin

dass mit mir alles in ordnung ist

erlöse mich von meiner scham

und unsicherheit

 

und es konnte nicht genug sein

an männern

die mir anerkennung gaben

 

und irgendwie

wusste ich damals nicht

dass ich ausgewählt hatte

beim ersten blick gewählt hatte

und meinte

dass sie mich ausgewählt hätten

 

und dann das spiel von neuem

weil es keine erfüllung gab

 

die scham und unsicherheit

nach einem moment der ekstase

sich wieder breit machte

sich ausbreitete

 

und dann begann das spiel von neuem

unendliche spielvariationen

mit unendlichen spielfolgen

und wechselnden mitspielern

 

was blieb

war die scham

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familie

ich musste erst so weit weg wie möglich von euch

um mich euch wieder annähern zu können

weggehen müssen um zu der zu werden die ich bin

sonst wäre ich zu der geworden die ihr haben wolltet

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*)  „Vergeben und Verzeihen sind nicht gleich Versöhnung. Versöhnung bedeutet zusätzlich zur Verzeihung, dass beide Seiten unbelastet von der Verletzung die vorbestehende Beziehung fortsetzen wollen. 

Nach der Vergebung kann eine Beziehung auch beendet werden; d. h. es kommt zu keiner Versöhnung, jedoch wird nichts nachgetragen. Eine Versöhnung ist nur sinnvoll, wenn der Täter Reue zeigt und Wiedergutmachung leistet. „Versöhnung fordert, dass die Parteien ihr Vertrauen zueinander erneuern.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Vergebung_(Psychologie)

 

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Mein erstes Buch „LebensZeichen. Erzählungen übers Älterwerden und mehr …“

Die letzten 10 Jahre meines Lebens.

Erhältlich in jeder Buchhandlung und im Buchhandel.

https://www.mymorawa.com/self-publishing/gestaltung/publizieren/?books%2FID53210%2FLebensZeichen&fbclid=IwAR2S-5OWe2wZHPwP3jdnMV4EbeDu80RDOOcpJuOTvkqYcepiKS95FvDbp-I

 

 

 

4 Gedanken zu “Über das Ausgesöhnte – die Scham und ich

  1. So offen, ehrlich, gefühlvoll geschrieben, liebe Monika! Hab vielen Dank für diesen Ausflug, der in vielem ähnlich, auch ein Ausflug in meine Kindheit sein könnte. Alles Liebe und Gute wünscht dir Andrea

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