
Ein Traum, eine Vision, ein Märchen? – wer weiß das schon …
Ich, die Erzählerin, habe in dem Blog-Beitrag „Der liebe Gott und ich und die Überschwemmungsgebiete“ geschrieben:
„ … Ich kann nicht glauben, dass ich nicht glaube. Und gleichzeitig glaube ich nicht. Und mein Unglaube schmerzt mich. Manchmal. Ich vermisse das Aufgehobensein und vieles mehr. …“
Hier zu lesen: https://monikakrampl.wordpress.com/2017/04/17/der-liebe-gott-und-ich/
Die folgende Erzählung habe ich im Oktober 2005 geschrieben.
Ich hatte sie vergessen.
Heute, bei der Sichtung meiner Tagebücher, habe ich sie wieder entdeckt.
Jeschuas Rückkehr.
Er tritt in mein Leben und kein Stein bleibt auf dem anderen.
Wie der Zusammensturz der Stadtmauern von Jericho durch die Posaunen oder bei der Tarot-Karte „Der Turm“.
„… und kein Stein blieb auf dem anderen …“
„Warum glaubst du nicht mehr?“ ist der erste Satz, den er zu mir sagt.
Ich weiß zwar genau was er meint, so wie ich in Zukunft immer wissen werde, was er meint. Und er weiß – was ich denke und fühle.
„Was?“ frage ich und versuche, mich diesen Augen zu entziehen. „Was oder woran glaube ich nicht mehr?“ „An Gott und die Drei-Gesichtige“ sagt er und mir bleibt der spöttisch verzogene Mund offen. Nie, noch nie in meinem Leben habe ich jemandem erzählt, dass ich die Göttin die Drei-Gesichtige nenne. Er sieht mich unverwandt an, ernst, doch mit einem unendlich liebevollen Blick, dem ich mich schon das ganze Wochenende zu entziehen versuche.
Nicht mit mir – sage ich mir immer wieder – nicht mit mir. Ich bin keine deiner esoterischen Groupies, die verzückt an deinen Lippen hängen. Ich spüre, wie der Boden unter mir zu schwanken beginnt. Ich will weg – weg von diesem mich durchschauendem und durchdringenden Blick, und gleichzeitig weiß ich – ich kann nicht weg. Wie angewurzelt und gleichzeitig doch schwankend in der Intensität dieses Blicks.
In vielen Selbsterfahrungsseminaren die ich besucht hatte – damals, noch auf der Suche nach mir selbst – habe ich gelernt, Blicken standzuhalten. Mich zu öffnen, mich zu zeigen und keine Angst zu haben vor dem Gesehenwerden und dem Sehen, so wie es die verschiedenen TrainerInnen immer bezeichneten. Doch bis jetzt habe ich es sehr selten erlebt, dass sich wirklich jemand öffnet, sich vollständig preisgibt. Auch mir fiel es nicht leicht. Sehr oft wurden Blick-Duelle daraus. Ein Machtkampf nach dem Motto – wer hält es länger aus.
Aber hier – jetzt, ist das anders.
Ich habe das Gefühl, in seine Seele zu schauen und was ich da sehe, ist unendlich. Macht mich schwanken wie einen Baum im Sturm. Ich selbst fühle mich durchschaut wie in einem Röntgengerät oder wie in einem offenen Buch, in dem er alle Seiten gleichzeitig liest. Ich kann mich nicht verstecken. Niemals – nicht hier und nicht in alle Ewigkeit.
Was gehen mir für Gedanken durch den Kopf – denke ich und sehe, dass er mich anlächelt. Er weiß es – er weiß, was ich denke.
Sein Lächeln ist – ja, wie ist es? Liebevoll, annehmend, gewährend, erotisch, herzlich.
All diese Worte passen, und doch reichen sie nicht – die Worte.
„Du glaubst auch nicht mehr an die Liebe, an die Liebe eines Mannes und auch nicht an mich“ ergänzt er.
„Wie heißt du?“ bringe ich unter unendlicher Anstrengung heraus. Ich höre meine Stimme und erkenne sie nicht.
„Jeschua“ sagt er, „du weißt es doch!“
Er hat Recht. In dem Moment, in dem ich die Frage an ihn formuliere, weiß ich auch bereits die Antwort. Ich nehme meine ganze Kraft, die ich noch habe und drehe mich um. Nur weg, weg von ihm – denke ich. Und – das kann doch nicht möglich sein. Ich gehe Schritt für Schritt weg von ihm. Als ich bei der Tür ankomme, sie öffne und hinausgehe, mache ich einen Blick zurück.
Er steht noch immer dort – mitten im Raum unter den anderen Menschen und sieht mir ruhig nach. Ein Leuchten ist um ihn.
„Ich werde auf die Erde kommen
und ihr werdet mich nicht erkennen …“
Nein, ich erkenne ihn nicht. Halte ihn für einen dieser neuen esoterischen Männer – für einen der „Frauenversteher“. Von den Frauen geliebt. Von den Männern bewundert oder verachtet.
Nein, ich erkenne ihn nicht – und doch weiß ich. Ich weiß, wer er ist in meinem Herzen und in meiner Seele. Ich weiß es und gleichzeitig wehrt sich alles in mir gegen dieses Wissen.
Mein Herz beginnt zu jubeln, meine Körper brennt vor Verlangen und mein Kopf sagt – mach dich nicht lächerlich, das ist Humbug, Nonsens. Doch auch da, unter dem Schleier des Verstandes, meines Intellekts, regen sich Erinnerungen, Bilder die aufblitzen und die ich sogleich wegschiebe.
Ich gehe über den Flur, die Treppe hoch zu meinem Zimmer unter dem Dach. Ziehe meine festen Schuhe an und schlüpfe in die dicke Jacke.
Es ist mir unheimlich, ich kann mich nicht wehren gegen diese innere Bilderflut. Es ist mir, als ob eine fest verschlossene Tür geöffnet worden wäre. Ich nehme noch ein Tuch und laufe die Stiegen hinunter und aus dem Haus.
Weg, weit weg – ruft ein Teil in mir und der andere, der immer stärker wird – geh’ zurück zu ihm. Ich gehe über den schmalen Pfad in der Wiese Richtung Wald. All meine Sinne sind geschärft. Ich fühle den kühlen Herbstwind auf der Haut, rieche den Holzfeuergeruch, der aus dem Schornstein des Hauses hochsteigt, sehe die orangeroten Farben des Sonnenuntergangs hinter dem Wald und höre das Krächzen des Vogelschwarms über mir.
„ … Sehet die Lerche auf dem Felde …“
Als ich merke, dass ich auf direktem Weg auf das Holzkreuz am Waldrand zusteuere, ändere ich abrupt die Richtung. Nein, nicht auch das noch – denke ich, fast schon in Panik. Mein Atem beschleunigt sich ohne dass ich rascher gehe und die Bilder überfluten mich ohne Vorwarnung.
Ich bleibe stehen und drücke meine Handflächen auf mein Herz, das wie rasend pocht und ich spüre den Schmerz, den ich so gut kenne. Ich atme tief durch – Ein und Aus, Heben und Senken – so wie ich es in meiner Meditationspraxis bei meinen buddhistischen LehrerInnen gelernt habe. Ein und Aus – konzentriere ich mich auf meinen Atem, lasse die Bilder los, lasse sie einfach weiterziehen – Atmen – Loslassen.
Ja, jetzt ist es vorbei. Ich blicke auf und gehe langsam weiter, den Waldweg in den Wald hinein und den Hügel hoch. Mein Lieblingsweg, auf dem sonst kaum einer anzutreffen ist. Der Wald ist ziemlich dicht und der Weg nach oben etwas anstrengend. Genau das, was ich jetzt brauche.
Ich gehe langsam, Schritt für Schritt, und achte auf meinen Atem. Es ist nun schon fast dunkel, doch ich kenne den Weg. Etwa fünfzig Meter unter dem Hügel bleibt der Wald zurück und eine weiche Wiese bedeckt den Hügel, der oben flach ist. Als ich auf der Ebene ankomme, scheint bereits der Vollmond und die ersten Sterne werden sichtbar. Ich hülle mich fester in meine Jacke und lege das Tuch um meinen Kopf. Ein Bild blitzt auf in mir, ein anderer Hügel, eine andere Zeit, auf dem ich stehe und meinen Kopf mit einem Tuch bedecke – Schmerz. Großer Schmerz. Ich atme tief durch und schau zum Himmel hoch.
„ Eli, Eli, lama asabtani“
Ich habe dich verlassen, Gott. Ich kann nicht mehr an dich glauben. Ich habe dich verleugnet, abgelehnt, auch weil ich es nicht mehr ausgehalten habe, was deine so genannten und sich selbst ernannten Vertreter auf Erden aus dir gemacht haben.
Tränen laufen mir über das Gesicht. Aber ich spüre auch Freude in meinem Herzen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten erlaubte ich mir wieder mit dir, Gott, zu sprechen.
Ich freue mich – ich hebe meine Arme hoch, mein Gesicht, und schreie es laut heraus: „“Ich freue mich!“ Ich beginne mich zu drehen, dort oben am Hügel, auf dem weichen Gras unter meinen Füßen und schreie es immer wieder nach oben in den Himmel.
Plötzlich ein Bild, gegen das ich mich nicht mehr wehren kann. Ein anderer Hügel, eine andere Zeit – ich und Jeschua, uns an den Händen fassend, im Kreis drehend und nach oben blickend.
„ … und Zeit und Raum sind eins …“
Ich habe mein bestes Kleid an, gewebt in einem hellen braun/beige mit goldenen Rändern. Jeschua sagt immer zu mir, ich sähe aus wie die Wüste bei Sonnenuntergang. Joshua hat ein Kleid in einem etwas dunklerem braun an. Die Wüste nach dem Sonnenuntergang – sage ich immer lächelnd und scherzend zu ihm. Wir halten uns an den Händen und drehen uns im Kreis. Ich bin erfüllt von seiner Liebe, meiner Liebe zu ihm und zu Gott. Noch nie vorher habe ich die Intensität des Lebens und der Liebe so stark und tief gespürt wie mit ihm.
Unsere Stimmen verschlingen sich ineinander, werden eins, so wie unsere Leiber.
Er sieht mich an mit diesen Augen, denen man sich nicht entziehen kann. Ich nicht, und auch nicht all die anderen, die den Kontakt zu ihm suchen und ihm folgen. Im Anfang war ich eifersüchtig auf die vielen Frauen, die immer um ihn waren und sogar auch auf die Männer, denen er sich genauso liebevoll zuwandte. Aber bald schon merkte ich, dass seine Liebe für alle reicht, dass sie unendlich und unerschöpflich ist. Mit der Zeit fühlte ich, dass auch ich diese unendliche und unerschöpfliche Liebe in mir habe – wenn ich sie nur zulasse.
„Gehen wir?“ sagt er, zieht mich zu sich und umfasst mich mit seinen Armen.
„Die Liebe hat kein Ende und kein Ziel …“
Ich spüre seine Arme noch um mich und merke, dass ich mich selbst mit meinen Armen umfasse. Mich fröstelt und plötzlich ist eine Leere in mir, die ich gut kenne. Ich sehe mich um, meine Freude ist verflogen. Was mache ich denn da? – denke ich kopfschüttelnd. Was ist bloß los mit mir?
Über mir ist der Himmel mittlerweile voller Sterne. Es ist nicht ganz dunkel, die silberne Mondhelligkeit weist mir den Weg. Mit Bedauern sehe ich mich um und mache mich auf den Rückweg. Als ich in den Wald eintrete, bleibe ich für einen Moment stehen, um meine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Der Wald ist so dicht, dass selbst das Mondlicht nicht bis auf den schmalen Pfad scheint. Ich fühle den Pfad mehr als ich ihn sehe und habe wieder das Gefühl, dass meine Sinne geschärft sind. Das Fühlen des Pfades unter meinen Füßen, die Nachtgeräusche der Tiere, der Geruch vom Waldboden – Pilze, vermodernde Blätter und Nadeln.
Ich trete aus dem Wald heraus und gehe über die Wiese auf das Haus mit den hell leuchtenden Fenstern zu. Und plötzlich ist sie wieder da, die Freude. Ich kann sie wieder spüren und fühle sie hell auflodern in meinem Herzen.
Ein Ruck geht durch meinen Körper. Der Boden schwankt leicht und es ist wieder, als ob mir der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Ein Luftzug streift mich. Ich atme tief durch, dieses mal schon weniger erschreckt. Ich sehe hinunter zu meinen nackten, braunen Füßen und der staubigen, lehmigen Straße. Ich schaue mich für einen Moment um und sehe vor mir das Haus meiner FreundInnen. Aus den Fenstern leuchtet und flackert gelber Kerzenschein. Ich höre das Stimmengewirr und das Lachen der Menschen. Fröhliche Stimmen sind es heute im Gegensatz zu anderen Zeiten, da die Stimmen öfter auch ärgerlich laut oder leise ängstlich waren. Ich trete ein.
Ich freue mich auf die Wärme des Raumes, das Essen und Trinken. Seit heute Morgen habe ich nichts mehr zu mir genommen. Der jüngste der Freunde, Thomas, kommt mir mit gerötetem Gesicht und glänzenden Augen entgegen. Er fasst meine Hand und zieht mich in den Raum.
„Er ist wieder da“ sagt er und seine Augen leuchten. „Er ist wieder da!“
„Ich weiß“ sage ich, und meine Augen machen sich auf die Suche nach ihm.
Er ist wieder da.
Und ich gehe zu ihm.
(M.K., 20. Oktober 2005)